Jedes Jahr am 9. November organisiert der Runde Tisch Ahrensburg den Gang des Erinnerns. Eine Veranstaltung zum Gedenken an die Novemberpogrome 1938 und an alle Opfer des Nationalsozialismus. Gemeinsam wird an verschiedenen Stolpersteinen in der Stadt mit Redebeiträgen den Ermordeten gedacht. Am Stolperstein von Anneliese Oelte gab es folgenden Redebeitrag vom RSK:
Der Gang des Erinnerns beginnt wie in jedem Jahr am Stolperstein von Anneliese Oelte. An einem Stolperstein, an dem wir uns an ein kleines Mädchen erinnern, das aufgrund seiner geistigen Behinderung vor 82 Jahren ermordet wurde. Ein Kind, das nicht gefördert, gewertschätzt und von der Gesellschaft als selbstverständlicher Teil behandelt wurde. Ein Stein, der an ein Schicksal erinnert, bei dem wir uns eigentlich immer sicher waren, dass so etwas nie wieder passieren kann. Aber haben wir uns da nur etwas vorgemacht? Hier in Deutschland, in dem Land, in dem dieses kleine Mädchen vorsätzlich durch Hunger und Vernachlässigung ermordet wurde, weil es nicht lesen und schreiben konnte, weil es hilfebedürftiger war als andere, wählt ein wachsender Anteil der Bevölkerung eine Partei, die offen damit Wahlkampf betreibt, Menschen mit und ohne Behinderung in der Schule wieder segregieren zu wollen. Eine Partei, die sich Lager wünscht für jene, die bei uns Schutz suchen. Die solch ein Deutschland auch gerne mit Waffengewalt gegen Schutzsuchende verteidigen möchte.
Aber es wäre auch zu einfach, immer nur auf die Extreme zu deuten und ausschließlich dort das Problem zu verorten. Das sind ja nicht “wir”, der aufgeklärte Teil. Aber wie ist es eigentlich um unsere eigene Inklusivität bestellt? Für wen erheben wir unsere Stimme? Wie behandeln wir Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen oder Erkrankungen, Menschen mit einer vermeintlich von der Norm abweichenden sexuellen oder geschlechtlichen Identität, Menschen nicht-deutscher Herkunft oder aus Armut?
Für mich ist der Stolperstein von Anneliese Oelte eine eindringliche Mahnung, dass es darum geht, die eigenen Privilegien, die eigene starke Stimme für andere einzusetzen. Für andere ohne Lobby und für Menschen, die auf mehr Hürden stoßen, die im Übrigen nicht gottgegeben sind, sondern menschengemacht und daher auch von uns änderbar, zumindest wenn es uns um eine gerechtere Gesellschaft geht.
Es liegt an uns allen, dem etwas entgegenzusetzen. Sei es durchs Wählengehen, durchs Aufstehen und lautstark Intervenieren, wenn Menschen sich rassistisch und diskriminierend äußern. Durch Proteste gegen eine immer menschenfeindlichere Politik, welche sich von gesichert Rechtsextremen vor sich hertreiben lässt. Durchs nicht wegschauen, weil es uns persönlich ja nicht betrifft.
Und das wird sicher anstrengend – in einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, Minderheitenrechte durchzusetzen, wenn sogar grundsätzliche Menschlichkeit infrage steht. Aber lohnen tut es sich.